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Landeszeitung Lüneburg: "Der Westen ist wieder der Feind" Interview mit Estlands Botschafter Dr. Mart Laanemäe

Lüneburg (ots)

Herr Botschafter, Ungarn weigert sich, das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Verteilung von Flüchtlingen anzuerkennen. Wie soll die EU darauf reagieren?

Dr. Mart Laanemäe: Der Europäische Gerichtshof EGH bestätigte die Entscheidung der Europäischen Union vom September 2015 und Estland als Ratspräsidentschaft ruft alle Mitgliedsstaaten dazu auf, die Umsiedlung aus Griechenland und Italien fortzuführen, um diese Länder zu unterstützen auf der Basis der Zusagen von 2015. Fragen zur Erfüllung der Pflichten sind Aufgabe der Europäischen Kommission, die bereits entsprechende Verfahren eingeleitet hat.

Für Estland ist die Mitgliedschaft in NATO und EU genauso wie für Lettland und Litauen ein Garant der Sicherheit. Fürchten Sie, dass mit der Uneinigkeit Europas die Gefahr einer Destabilisierung der baltischen Staaten wächst?

Die mögliche Uneinigkeit Europas würde Europa als Ganzes schwächen. Europa muss stark und stabil sein und in diesem Sinne ist es das überragende Ziel unserer Ratspräsidentschaft alles zu tun, um die Einheit und Beschlussfähigkeit der EU zu stärken

Sind die USA unter Donald Trump für Sie noch ein verlässlicher Bündnispartner?

Doch. Die Bedürfnisse aller Bündnispartner sind gleichgeblieben und alle Bündnispartner halten ihre Versprechen ein.

Warum ist die Aufnahme von Migranten anders als in Ungarn, Tschechien oder Polen für Estland kein Problem?

Die Probleme anderer europäischer Länder wie zum Beispiel Deutschland mit der Migration waren uns von Anfang an bekannt, da alle Europäer die gleichen Nachrichten sehen und lesen, auch wenn wir selber nicht betroffen waren und die einzelnen Asylbewerber, die wir im Land hatten, zu uns vorwiegend nicht über das Mittelmeer gekommen waren. Nachdem die EU gemeinsam entschieden hat, dass alle Mitgliedsländer Flüchtlinge aufnehmen werden, war es für Estland nur noch eine Frage der Umsetzung. Am Anfang war auch ich selber daran beteiligt, durch die Zusammenarbeit verschiedener staatlicher Institutionen ein neues System aufzubauen, um bereits anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen, die ab ihrer Ankunft in die Gesellschaft integriert werden. Die Regierungsmitglieder haben sich bemüht, das Thema in der Bevölkerung zu diskutieren und Bedenken, die bei uns auch durch die internationalen Medien erweckt wurden, zu zerstreuen.

Welches sind - neben der Flüchtlingspolitik - aus Ihrer Sicht die drängendsten Probleme, die Estland während seiner EU-Ratspräsidentschaft angehen muss?

Die Flüchtlingspolitik ist ein wichtiger Teil europäischer Sicherheit, hat nebenher eine soziale Dimension, doch derzeit sind die drängendsten Probleme für die Europäer solche wie Dieselmotoren, Eier und Klimaschutz. Lösungen für diese Probleme können durch eine konsequente Vorgehensweise erreicht werden, auch da gibt es Aufgaben für die Ratspräsidentschaft, die Flüchtlingspolitik ist im Vergleich vielfältig. Dennoch haben wir jetzt, da es der Wirtschaft gut geht und die Menschen in Europa zuversichtlich sind, die Möglichkeit, uns für die Zukunft vorzubereiten. Da sind Themen wie der digitale Binnenmarkt, die Verteidigungszusammenarbeit, die Umstellung der Arbeitswelt, das sind Themen die unseren Alltag beeinflussen. Auch die Beziehungen zu unseren Partnerländern über die Grenze haben eine wichtige Bedeutung für unsere Zukunft - wir sehen schon heute, dass Grenzzäune nicht besonders wirksam sind und müssen uns bemühen, dass auch bei unseren Nachbarn gute Bedingungen vorzufinden sind, dass sie uns bei der Lösung unserer Sorgen mithelfen können. Das Gleiche gilt für unsere Beitrittskandidaten, deren Ziel, wie gesagt, der Beitritt als vollwertige Mitglieder ist.

Der Wahlkampf-Konflikt der Türkei mit Deutschland, den Niederlanden und Österreich hat die Gefahr der politischen Instrumentalisierung von Minderheiten in Europa offenbart. Hat Estland seine große russischsprachige Minderheit als fünfte Kolonne Putins besonders aufmerksam im Blick?

Gerade hier in Lüneburg, einer alten Hansestadt mit heute noch starken Beziehungen zu uns, in der unsere deutschsprachigen Landsleute einen zentralen Anlaufpunkt aufgebaut haben, ist es angebracht, festzustellen, dass das historische Baltikum - heute Estland und Lettland - immer Menschen unterschiedlichster Muttersprache beheimatete. Doch auch wenn die Menschen zu Hause unterschiedliche Sprachen gesprochen haben, und meistens davon mehrere, haben sie immer zusammen und nebeneinander gelebt. Die Muttersprache weist nur in Einzelfällen einen Zusammenhang mit Namen, Glauben, Essgewohnheiten, Kleidung, Staatsbürgerschaft sowie politischer Aktivität und Parteizugehörigkeit auf. Und Estland war immer dermaßen weltoffen, dass Einwanderer sich gut eingelebt haben. Tatsächlich hat der Staat das russischsprachige Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufgebaut und ist Deutschland besonders für die Förderung der Zusammenarbeit dieser Sender mit deutschen Medien dankbar. Estland ist heute ein reiches Land, wo man gut leben kann, und alle Einwohner schätzen das. Nicht die eigenen Leute muss man aufmerksam im Blick behalten, sondern das Geschehen auf der anderen Seite der Schengen-Außengrenze.

Die baltischen Staaten sind seit ihren leidvollen Erfahrungen von 1940 und erst recht nach der Annexion der Krim in Sorge vor dem großen Nachbarn. Auch das Manöver Sapad-2017 beunruhigt die Ostsee-Anrainer. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass Putin sein expansionistisches Streben forciert?

Manöver hat es immer gegeben, Zapad-2017 ist nicht das erste Manöver, bei dem Russland eine Auseinandersetzung mit einem offensichtlich westlichen Feind übt. Das politische Umfeld ist eher das Problem - in Russland wird der Westen wieder als Feind dargestellt und das können wir im Westen schwer nachvollziehen - wozu dienen heute Feindbilder? Können Sie nachvollziehen, dass sich Russland - nicht zuletzt durch die Bataillone in Estland, Lettland, Litauen und Polen - von der NATO umzingelt fühlt? Sicherlich kann man nachvollziehen, dass sich Russland immer über die militärische Entwicklung seiner Nachbarn beschwert hat und gleichzeitig eine starke und angriffsfähige Streitkraft aufgebaut hat. Dass die NATO nach einer Analyse festgestellt hat, dass mehr militärische Präsenz im Osten sinnvoll ist, wird Russland ebenso nachvollziehen können.

Vermissen Sie in Deutschland und der EU Verständnis für die Ängste der Balten?

Die Bundesregierung hat auf unsere Anliegen nach der russischen Aggression in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim sehr schnell reagiert und schnell Einheiten der Bundeswehr und der Luftwaffe zu uns geschickt. Die politische Unterstützung war sehr groß und erkennbar und die bereits erwähnte Förderung der Zusammenarbeit von Medien war sehr willkommen. Andere EU-Staaten haben ebenfalls reagiert. Die Solidarität innerhalb der EU bei einer äußeren Bedrohung ist stark.

Erwarten Sie nach einem möglichen Machtwechsel in Berlin einen anderen Kurs im Verhältnis zu Russland?

Ich glaube, dass sich kein Mitgliedsland der EU so intensiv mit Russland auseinandergesetzt hat, wie Deutschland. Den größten Einfluss auf die deutsche Vorgehensweise bezüglich Russland hat historisch Moskau gehabt und das wird sich wohl nicht ändern.

Können Sie das genauer erklären?

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind sehr tief verwurzelt und haben haben eine lange Geschichte - durch eine gemeinsame Grenze, die es einmal gegeben hat, und auch durch Kriege. Deshalb hat es in fast allen deutschen Parteien immer den Wunsch gegeben, grundsätzlich gute Beziehungen zu Russland zu pflegen, den Dialog nicht abreißen zu lassen. Die Frage ist nicht, was das Ziel ist, sondern wie man das Ziel erreicht. Dazu wird es in der deutschen Politik immer unterschiedliche Positionen geben - unabhängig davon, welche Koalition in Berlin regiert. Die deutsche Politik gegenüber Russland hängt davon ab, was Russland tut. So hat das Vorgehen Putins auf der Krim zuletzt dazu geführt, dass hierzulande die Beziehungen zu Moskau überdacht werden.

Unterstützen Sie die Forderung des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden?

Martin Schulz hat selber auch angedeutet, dass es sich um eine Frage für die gesamte EU handelt, in der es unterschiedliche Meinungen gibt und dass bedeutet, dass wenn das Thema unter unserem Ratsvorsitz besprochen wird, wir versuchen werden ein Ergebnis zu erreichen, dass der Meinung aller Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, entspricht.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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