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Aachener Nachrichten: Mit der Gefahr leben - Über die Hilflosigkeit nach dem Blutbad von Paris; ein Kommentar von Joachim Zinsen

Aachen (ots)

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Gesagt hat das vor Jahrzehnten Ludwig Wittgenstein, der berühmte österreichische Philosoph. Über etwas zu sprechen heißt begreifen zu wollen, begreifen zu können. Aber die Menschenverachtung, die sich in den Anschlägen von Paris ebenso manifestiert, wie in den Attentaten von Ankara, Bagdad oder Beirut, ist sie überhaupt begreifbar? Es ist viel geredet worden seit dem Blutbad von Paris. Es wird Wut geäußert, wir überbieten uns in Trauerbekundungen, in Analysen und in (vor)schnellen Antworten. Hektisch werden mögliche Handlungsoptionen in die mediale Arena geworfen. Politiker wollen Entschlossenheit demonstrieren, versuchen stark zu wirken. Vielleicht, weil wir, die Wähler, es von ihnen erwarten. Dabei scheint hinter all dem nur etwas auf, was kaum jemand zugeben will: die eigene Hilflosigkeit. Vielleicht reden wir nur, um zu versuchen, unsere Hilfslosigkeit zu therapieren. Vielleicht wäre es angemessener, Fragen zu stellen, statt gängige Deutungsmuster anzubieten und in die nach monströsen Verbrechen üblichen Rituale zu verfallen. "Nichts wird jetzt mehr so sein, wie es war", lautet beispielsweise einer der Sätze, die jetzt wieder schnell dahingesagt werden. Aber ist das nicht eine Phrase, die in eine fatale Richtung weist? Hätten die Terroristen nicht genau das erreicht, was sie wollen, wenn wir unsere offene Gesellschaft ein Stück weit schließen und geistig mobil machen? Oder die Parole, jetzt herrsche Krieg - ist sie nicht falsch und gefährlich? Ja, der IS muss bekämpft werden! Aber wie? Haben die USA mit ihrem seit Jahren geführten "Krieg gegen den Terror" nicht genau das Gegenteil erreicht? Wurde die Terrorsekte IS dadurch nicht erst zu dem, was sie heute ist? Hat der Glaube, den Sumpf des Terrorismus militärisch austrocknen zu können, nicht mehr Probleme geschaffen als beseitigt? Müssen wir uns dem Thema Terrorismus nicht endlich anders nähern? Wäre es nicht sinnvoller, einmal zu fragen, ob unser Wirtschaftssystem, das national wie international immer mehr Menschen ausgrenzt und zur Perspektivlosigkeit verurteilt, Terrorismus fördert und wenn ja, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, statt in eine Rhetorik zu verfallen, die der nach dem 11. September ähnelt? Hat nicht der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg viel weiser reagiert, als er nach dem schrecklichen Massaker des Rechtsterroristen Anders Breivik erklärte: Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität? Wir aber stecken auch in Deutschland wieder mitten drin in einem Angstdiskurs. Einem Diskurs, der vereinfacht, der falsche Zusammenhänge herstellt, der die Opfer von Paris politisch instrumentalisiert. Nein, es geht jetzt nicht um den unseligen Herrn Söder. Der Versuch des CSU-Politikers, eine Verbindung zwischen dem Terror von Paris und der deutschen Flüchtlingsdebatte herzustellen, war einfach nur schäbig und Wasser auf die Mühlen offen Rechtsradikaler. Es geht - und das ist viel wichtiger - um Millionen Muslime in Deutschland. Viele sehen sich erneut mit einem unausgesprochenen Generalverdacht konfrontiert. Die Forderung, sie müssten sich von den Terroristen noch stärker distanzieren, ist Ausdruck dieser Haltung. Dabei haben muslimische Verbände jene Wahnsinnigen, die ihre Religion als Geisel genommen haben, bereits unzählige Male in aller Schärfe verurteilt. Man muss es nur hören wollen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Offene Gesellschaften bergen Gefahren. Mit diesen Gefahren müssen wir leben. Vor diesen Gefahren darf man durchaus Angst haben. Doch gleichzeitig lauert da eine andere, noch größere Gefahr. Die Gefahr nämlich, dass wir uns auch durch immer neue Spekulationen in eine Hysterie hineintreiben lassen. Die Gefahr, dass wir jenen auf den Leim gehen, die von schnellen Lösungen und einer totalen Sicherheit sprechen. Annähernd totale Sicherheit gibt es aber nur in totalitären Gesellschaften. j.zinsen@zeitungsverlag-aachen.de

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Telefon: 0241 5101-388
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